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Bild: Unsplash / Karthik Swarnkar

„Automaton“: Berit Glanz zeigt die prekäre Welt des Clickworkings

Schlechte Bezahlung, fehlende Absicherung und psychische Belastungen – dafür steht Clickwork. In ihrem Gegenwartsroman Automaton macht Berit Glanz sichtbar, was häufig hinter privaten Türen stattfindet: Die prekäre, anonyme und belastende Arbeit von Clickwork:innen, die die Existenz vieler KI-Systeme überhaupt erst möglich machen. Der Roman zeigt aber auch, wie Solidarität in Zeiten einer online vernetzten Welt entstehen und aussehen kann.

Tiff – das ist nicht nur die Abkürzung des Bildformats „Tagged Image File Format“, sondern auch der Name von Berit Glanz Protagonistin. Kein Zufall, wie die Schriftstellerin und Autorin bereits in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur-Podcast „Lesart“ versicherte.

Bilder spielen nämlich eine besondere Rolle in Tiffs Leben. Tagsüber versucht die alleinerziehende Mutter, für ihren Sohn Leon da zu sein und ihm trotz Geldnot eine sorgenfreie Kindheit zu bereiten. Die Nächte allerdings verbringt Tiff allein vor ihrem Computer und führt kleine Online-Aufträge, sogenannte Autobs aus, für die sie einen Hungerlohn erhält. Im Auftrag eines Unternehmens klickt sie sich in Akkordzeit durch digitale Bild- und Textfluten, um diese mit einem Label oder einer Beschreibung zu versehen.

„Immer wieder erscheinen ähnliche Screenshots von geöffneten Browsern mit mehr oder weniger vielen Tabs. Youtube-Videos, Zeichentrickfilme, Musikclips, Let’s-Play-Videos, Wikipedia-Artikel, Produkte auf Ebay, Artikelbeschreibungen bei Amazon, Nachrichtenwebsites, Online-Shops. Bild um Bild Einblicke in die Internetnutzung ihr unbekannter User, die sie mit jeweils drei Wörtern zu fassen versucht.“

DATENFUTTER FÜR KI

Tiff ist eine sogenannte Clickworkerin. Ihre Geschichte mag fiktiv sein, Clickwork jedoch ist bittere Realität und wird durch den Hype um künstiche Intelligenz und Big Data weiter vorangetrieben. Denn um trainieren zu können, benötigen KI-Anwendungen Daten – beispielsweise für die Bilderkennung. „Eine KI-Anwendung muss erst einmal lernen, eine Katze von einem Hund zu unterscheiden. Sie benötigt annotierte Daten. Es muss also zum Beispiel erst einmal von Menschenhand kategorisiert werden, dass es sich bei einer Abbildung um eine Katze handelt“, erklärt mir die Medienwissenschaftlerin Anne Burkhardt vom RHET AI Center in Tübingen.

„Automaton“ von Berit Glanz, 243 Seiten | Buchcover: Berlin Verlag

Doch nicht immer handelt es sich im Arbeitsalltag von Clickworker:innen um harmlose Katzenbilder. Das musste auch Tiff am eigenen Leib erfahren. Ihre Clickwork-Laufbahn beginnt als Contentmoderatorin. Tag für Tag hat sie gemeldete Inhalte aus sozialen Medien gesichtet und bewertet.

„Hau hier ab, hatte sie gesagt, solange du noch nicht kaputt bist. Alle glauben, dass es sie nicht betreffen wird. Alle. Aber irgendwann bricht jeder. Sind es die Bilder, die so schlimme Auswirkungen haben?, hatte das Mädchen sie gefragt. Ihr Gesichtsausdruck zeigte jetzt eine große Verunsicherung. Sie steckte noch in der Anfangsphase mit den Bildern von Brüsten und urheberrechtsverletzenden Memes, und sie hatte keine Ahnung, was noch auf sie zukommen würde.“

Seitdem kann Tiff das Gesehene nicht mehr vergessen. Die Bilder begleiten sie auch, wenn ihr Computer ausgeschaltet ist. Der Weg zum Kindergarten ihres Sohnes, Einkaufen und unter Menschen gehen – all das löst Angst und Panikattacken in ihr aus, die sie an ihre Wohnung fesseln.

Für ihre Recherche hat sich Berit Glanz selbst auf einer Plattform für Clickwork ausprobiert. In ihrem Roman macht die Autorin sichtbar, was sonst hauptsächlich im globalen Süden stattfindet: Anfang 2023 deckte zum Beispiel das Times Magazin auf, dass das Unternehmen OpenAI für die Bereinigung von ChatGPT auf den Dienstleister Sama zurückgriff: Zahlreiche unterbezahlte kenianische Arbeiter:innen des Unternehmens klickten sich dafür durch Inhalte, die von Pornographie, Kindesmissbrauch und Selbstmord handelten. „Das ist die schlimmste Dimension von Clickwork. Denn hier geht es nicht nur um Ausbeutung im Sinne von Unterbezahlung. Es wird auch in Kauf genommen, dass Menschen psychische Schäden davontragen und dafür in keiner Weise rekompensiert werden“, sagt Anne Burkhardt.

CLICKWORK BRINGT EIN DIGITAL VERNETZTES PREKARIAT HERVOR

Der Job als Automaton erscheint der alleinerziehenden Tiff als einziger Ausweg, um sich und ihren Sohn zu ernähren. Denn die Online-Plattform „Automa“ ermöglicht ihr das Arbeiten im Schutz der eigenen vier Wände. Alles, was sie braucht, ist ein eigener Computer. Die Angst, dass wieder grausame Aufnahmen auf ihrem Bildschirm aufleuchten könnten, begleitet Tiff ständig.

Berit Glanz lässt ihre Protagonistin allerdings nicht vollständig in der Leere und Anonymität des Internets versinken. Tiffs Lichtblick sind die anderen „Automatons“ im Chat. Gemeinsam mit Stariseria und Nik78 hat sie sich ein eigenes Forum eingerichtet, über das die Automatons aus unterschiedlichen Zeitzonen der Welt kommunizieren. Denn es ist Vorsicht geboten: Wer sich kritisch über „Automa“ äußert, ist raus. Und auch Fehler werden bestraft.

Wenn ihre Fehlerquote im Vergleich zu den anderen Automatons zu hoch ist, verschlechtert sich ihr Rating, wird sie es schwerer haben, besser dotierte Autobs zu bekommen. Erst nach einer knappen Stunde hat Tiff den Bildersatz fertig bearbeitet. Sie ist den Tränen nah. Gibt sie den Auftrag unvollendet zurück, wird sie gar nicht bezahlt. Nach einer halben Stunde Suche nach Schnee hatte sie nicht aufgeben wollen, mit jedem Bild gehofft, dass der Datensatz abgeschlossen wäre. Das machtlose Gefühl stellt sich wieder ein. Sie hat beinahe eine Stunde für zwei Dollar gearbeitet.“

Die Dienste der Automatons, so ist sich Tiff sicher, verkauft „Automa“ teuer an andere Firmen weiter. Wofür genau sie arbeiten, wissen die Automatons nicht.

Als Tiff jedoch einen Auftrag für ein Unternehmen namens ExtraEye annimmt, und die Kameraufnahmen für ein intelligentes Überwachungssystem auswertet, wird ihr klar: Mit ihrer Arbeit liefert sie nicht das Futter für eine KI – sie selbst ist das intelligente Überwachungssystem. Als sie dabei auch noch Zeugin eines Verbrechens wird, gehen sie und die anderen Automatons der Sache auf den Grund.

UNSICHTBARES SICHTBAR MACHEN

Mit ihrem Roman zeigt Berit Glanz, dass das Thema KI in der Literatur nicht mit dystopischer Science-Fiction zusammenhängen muss. Und trotzdem ist „Automaton“ gleichermaßen spannend – aber auch berührend. So dunkel der Roman zu beginnen scheint, so deutlich wird im Laufe von Tiffs Geschichte: Es sind vor allem Menschen, die unser Leben reicher machen. Egal, ob diese Beziehungen online oder offline stattfinden.

Berit Glanz schafft es, neben dem Thema KI auf eine weitere große Herausforderung unserer Zeit hinzuweisen: den Klimawandel. Und das tut sie nicht nur in einem weiteren Erzählstrang ihrer Geschichte, der die zweite Protagonistin, Stella, einführt, sondern auch durch ihre Kapitelüberschriften: Diese spielen nämlich entweder auf das Thema Holz an oder tragen den Namen eines Tieres oder einer Pflanze. Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur erklärte Glanz, ebenso wie die unsichtbare Arbeit von Clickworker:innen, habe sie in ihrem Buch auch Tiere und Pflanzen sichtbar machen wollen, „die sonst eben nicht gesehen werden.“

Die leuchtend blauen Schmetterlinge auf dem Buchcover von „Automaton“ spielen daher wohl gleich auf zwei Dinge an: Den Klimawandel – und die weiterhin so große Bedeutung menschlicher Schwarm-Intelligenz in Zeiten von KI.

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